Die Bahn ist berühmt, das ist das Eine – vom Pass ins Tal im Frühling etwas vom Weltschönsten

Sie ist weltberühmt, die Bahnstrecke der RhB, vom Engadin ins Puschlav oder Val Poschiavo, nach Tirano. Zusammen mit der Albulastrecke gehört sie zum Weltkulturerbe. Den Teil von Chur bis ins Engadin kenne ich schon seit langem. Vom Berninapass bis nach Tirano hinunter habe ich bisher noch nicht mit der Bahn genossen.

Für viele Bahnfans ist diese Strecke ein «Muss». Auch für mein Vater, der ein grosser Eisenbahnfan und Nutzer war, sagte, es sei die schönste Strecke die er kannte. Immer wieder, wenn sie im Engadin waren, bereisten sie diese Strecke. Sie ist ganzjährig offen, also auch im Winter, sobald die Strecke vom Neuschnee, mit gewaltigen Schneeschleuderloks befreit worden sind.

Ich möchte jedoch weniger die berühmte rote Bahn in den Fokus nehmen. Denn besonders seit ihrem hundert Jährigen Jubiläum sind bis ins kleinste Detail, Berichte und Reportagen geschrieben und dokumentiert worden.

Val Poschiavo im Frühling ist wie jungfräuliche Natur:
Von Tirano bis nach Pontresina zu wandern – ist eines meiner Ziele, meines langen Aufenthaltes im Engadin. Ich habe diese Strecke in drei Etappen aufgeteilt.

Am 20. April startete ich zur ersten Etappe. Und zum ersten Mal durfte ich diese wundervolle Strecke der RhB geniessen, bis nach Tirano hinunter. Es ist Zwischensaison, und im Engadin hatte es noch viel Weiss übrig vom Winter. Ich stieg morgen früh, bei der Station Surovas in den Zug ein, und bis zum Berninapass wurde der Kontrast den frühmorgentlichen blau zum vielen Schnee auf dieser Höhe, zu einer Traumkulisse.

Hier oben schien es mir, am Polarkreis anzukommen. Alleine im Zug wurde ich Kehre um Kehre in das grüne Tal hinuntergefahren. Die Kontraste vom winterlichen Pass zum intensiven Frühlingsgrün in Tirano, an der Endstation, kann nicht krasser sein.

Es wurde mir bewusst, dass ich so einen herrlichen Kontrast, bequem im Zug, in gemütlichem Tempo, und doch zweieinhalb Stunden Dauer, noch nie erlebt hatte. Besonders weil ich in meinem Leben, zum ersten Mal den Frühling im Engadin, erfahren darf, war der Kontrast bis Tirano hinunter, ein herzbewegendes Erlebnis.

Ich wanderte die erste Etappe von Tirano nach Poschiavo. Der Frühling am 20. April war hier, auf 430m) schon sehr intensiv. Ich war alleine unterwegs. Der Unterschied der Vegetation spürte ich stark bis Poschiavo (1012M.ü.M)

Die Natur ist vom Menschen «noch unberührt» und deshalb so wunderschön zu sehen, wie sich eine Vegetation entfalten kann, auf verschiedenen Höhen, immer dann wenn es für die einzelnen Pflanzen stimmig ist.

Dieses Erlebnis war am 18.Mai noch einmal intensiver zu erleben. Die 2.Etappe wanderte ich von Poschiavo zur Alp Grüm, bis auf 2090M.ü.M.

Die Bilder werden es zeigen, wie intensiv die Natur wirken kann, wenn der Mensch die Wiesen und Matten noch nicht «bewirtschaftet» hat – weder gemäht oder beweidet.

Die Natur in ihrer unbeeinflussten Entfaltung im Frühling, ist für mich die energievollste und harmonischste Zeit des Jahreszyklus. Darum erstaunt es mich besonders, dass ich auch auf dieser Wanderstrecke ganz alleine unterwegs war. Nur bei den Gletschermühlen von Cavaglia traf ich zwei Familien.

Auf Alp Grüm, beim Bahnhofrestaurant hatte es dann mehr Leute. Bahnfans und einzelne Wanderer, die den Weg hinunter nach Cavaglia wanderten. Hier oben endete meine Etappe, weil es bis zum Ospizio Bernina noch hohe Schneefelder hatte. Also werde ich die 3.Etappe erst Anfangs Juni starten.

Bahn und zu Fuss – Ein Erlebnis als Meditation und Entspannung

Die Bahn alleine, von Pontresina bis Poschiavo oder bis Tirano, ist schon Meditation Und Entspannung. Besonders in dieser Zeit der Zwischensaison. Sich zurückzulehnen und die phantastische Bergwelt, vom noch schneebedeckten Pass, bis ins üppige Grün des Tales, geniessen zu können, geht – zumindest mir sehr zu Herzen.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich diese Strecke im Sommer reisen würde, weil ich es jetzt, in dieser unglaublichen Ruhe erfahren durfte. Kommt dazu, dass die Bahnleute selbst eine Ruhe und Freundlichkeit ausstrahlen, dass sie eigentlich noch Therapie-Trinkgeld verdienen. Es ist spürbar, die Bahnleute und die Bevölkerung in diesem Tal, geniessen diese ruhige Zeit. Es ist wie das Atemanhalten, bevor die Saison wieder losgeht!

Zu Fuss, Teile der Strecke zu wandern, komplettiert diese reinste Meditation. Die Vegetation zu beobachten, welche sich nach Höhe und Sonnenlage, verschieden entfaltet, ist ein unfassbar schönes Erlebnis.

Noch etwas zur Bahnstrecke – die Ingenieure von damals hatten (zum Glück) noch nicht die technischen Möglichkeiten von heute. Dafür hatten sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, diese Strecke, ohne grosse Narben zu hinterlassen, in die bergige Natur eingefügt.

Zu Fuss unterwegs sind diese Bauwerke zu bestaunen, wenn die Serpentinen der Strecke immer wieder überquert werden. Schon erstaunlich wie die Bahn, die an den Berg geschmiegten Geleise, vor über hundert Jahren gebaut, eine Höhe von 1800m. auf solche Art und Weise überwinden kann! Ich habe höchsten Respekt für alle Menschen, die daran gearbeitet haben, mit Schweiss und Blut.

Ich kann es nur wiederholen – das Val Poschiavo, vom Berninapass bis Tirano, im Frühling zu erleben, ist etwas vom Schönsten und geht zu Herzen, wenn man gerne mit Bahn und zu Fuss unterwegs ist – und die Natur bis ins Kleinste zu schätzen weiss!

Am besten quartiert ihr euch in Pontresina ein. Natürlich preise ich dies an, weil es mir hier immer noch besonders gut gefällt. Auch in der Zwischensaison haben ein paar Hotels offen. Und Wohnungen hat es reichlich.

Jetzt bin ich geduldig, und warte bis Anfang Juni, für die dritte Etappe!
Bis dann wünsche ich euch allen eine wunderschöne Zeit – möglichst in freier Natur!

Mit herzlichen Grüssen
Stephan Meyer